Am Ende geht es um die Menschen

Durchgeschüttelt von der Corona-Pandemie, haben viele Unternehmen ihre Spielregeln neu definiert – auch orgavision. Warum er auf konsequente Mitarbeiterorientierung und das flexible Arbeitszeitmodell setzt, erzählt uns Gründer und Geschäftsführer Johannes Woithon in diesem Interview.

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Lieber Johannes, orgavision bietet seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das flexible Arbeiten an – also lässt ihnen jeden Tag aufs Neue die Wahl, ob sie vom Büro oder von zu Hause aus arbeiten möchten. Mal davon abgesehen, dass das selbst heute, nach zwei Jahren Pandemie, nicht selbstverständlich ist: Das war ja nicht immer so …
Stimmt. Wir sind wie viele andere immer davon ausgegangen, dass im Büro gearbeitet wird. Das hat niemand hinterfragt. Hinzu kommt, dass unsere hellen Räume hier im denkmalgeschützten Haus der Werbung in Berlin auch identitätsstiftend sind – und dass das Miteinander im Büro zumindest bei mir immer ein sehr positives Wir-Gefühl erzeugt hat.

Egal, in welcher Stimmung ich hier morgens ankam: Wenn ich die Tür aufschloss und die Kolleginnen und Kollegen durch die Glasscheiben sah, alle bei der Arbeit – das hat mir einen Energieschub gegeben. All diese Menschen zusammen an einem Ort, mit einem Ziel … Ich schätze das sehr! Und ich schätze das Lernen, auch das indirekte, voneinander. Das Lesen zwischen den Zeilen. Dass wir Anteil nehmen können an dem, was im Team geschieht.

Ich muss dazu sagen, ich war vorher als Berater tätig, das ist ein eher einsames Leben. Daher habe ich das Büroleben hier bewusst und mit viel Wertschätzung begonnen.

Johannes Woithon Geschäftsführer und Gründer von orgavision

Zur Person

Johannes Woithon ist Gründer und Geschäftsführer der orgavision GmbH. Teilhabe und Partizipation sind für ihn, seine Software, aber auch sein Unternehmen essenziell. Was ein Teeküchengespräch ist und warum man nach längerem Nachdenken beim flexiblen Arbeitszeitmodell landet, erzählt er uns an dieser Stelle.

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Wann ist das Arbeiten vor Ort, im Büro, denn erstmals in Frage gestellt worden? Ist aus der Mitarbeiterschaft überhaupt je die Bitte gekommen: Wir würden gern von zu Hause aus arbeiten?
Nein, das habe ich vor Corona nicht wirklich als klare Forderung erlebt. Unsere Software-Tools konnten zwar remote genutzt werden, aber auch Besprechungen remote abzuhalten – daran hatte niemand gedacht. Allerdings: Wenn jemand die Handwerker im Haus hatte oder einmal absolute Ruhe für ein Projekt brauchte – dann durfte der- oder diejenige daheimbleiben. Schon immer. Wir waren von Anfang an lösungsorientiert und offen für Wünsche.

Auch denjenigen mit langen Anfahrtszeiten sind wir entgegengekommen. Eine Kollegin hatten wir – lange vor Corona – mit Wohnsitz in Bayern eingestellt. Sie hatte gar keine Chance, Teil des Berliner Büros zu werden. Sie konnte nicht in der Teeküche stehen und mit den anderen plaudern. Sie war außen vor, und ich fragte mich damals, wie ich sie integrieren könne. Also habe ich die Situation simuliert und ein wöchentliches „Teeküchengespräch“ mit ihr eingeführt: In dieser Unterhaltung haben wir keine Arbeitsinhalte besprochen, das war einfach nur Klatsch und Vergnügen.


Was für ein Denkprozess ist dann bei euch in Gang gekommen, so dass heute jeder die freie Wahl hat, wo er oder sie arbeiten möchte?
Ganz ehrlich, ohne die Zäsur durch die Corona-Pandemie wäre es nicht passiert. Nicht so schnell, jedenfalls. Plötzlich musste die Arbeit von zu Hause aus zwingend organisiert werden.

In Phase 1 erlebte ich viel Enthusiasmus: „Cool, das klappt ja alles mit der Technik! Das geht ja!“ Im Vordergrund stand, dass wir die Durchführung der vielfältigen Aufgaben sicherstellen konnten – technisch, aber auch kommunikativ und organisatorisch.


Warum hat das alles so gut funktioniert?
Ich schätze, weil sich alle so gut kannten und einander vertrauten. Und natürlich, weil wir – von Hause aus – auf intelligente, cloudbasierte Softwarelösungen gesetzt haben.

„Es kam nicht jeder gleich gut mit der neuen Situation klar. Das Homeoffice eignet sich nicht für alle.“

Wie ging es dann weiter?
In Phase 2 nahm ich mehrere parallele Entwicklungen wahr, die zusammen begünstigt haben, dass wir bei orgavision heute das flexible Arbeitsmodell anbieten.

Zum einen: Auch wenn organisatorisch und technisch alles gut funktionierte … Es kam nicht jeder gleich gut mit der neuen Situation klar. Das Homeoffice eignet sich nicht für alle. Und dadurch, dass wir voneinander getrennt saßen, haben wir gar nicht mitbekommen, wie es den anderen wirklich ging.

Zum anderen gab es aber auch Anfragen aus einzelnen Teams, das Arbeiten dauerhaft und durchgehend remote zu ermöglichen, weil es für einige super funktionierte. Zu Hause war es oft ruhiger als im Büro – angenehm z. B. für diejenigen, die viel telefonieren müssen.

Erstmal gab es zum dauerhaften Homeoffice aber eine Absage von mir. Nein, fand ich, wir wollen das Büroleben doch nicht komplett eintauschen gegen Remote Work! Büroarbeit ist wichtig und prägt unsere Kultur! Aber natürlich fragten wir uns, wie man das Beste aus beiden Welten zusammenführen könne.

Ich stellte Überlegungen an, wie viele Tage in der Woche Menschen idealerweise im Büro und im Homeoffice arbeiten. Etwa 2–3 Tage an beiden Orten, dachte ich, Hälfte – Hälfte. Aber wer legt das im Detail fest? Individuelle Wünsche und Vorlieben treffen hier auf die Anforderungen der Kollegen – und natürlich der Kunden. Was ist das Beste für unser Unternehmen, für das Team, für den Einzelnen? Immer, wenn ich gedanklich versuchte, „the best of both worlds“ zusammenzuführen und für alle passend zu machen, kam ein unschöner Kompromiss heraus. Keine Partei bekam dabei ihr Optimum.

Das klingt etwas desillusionierend … aber ihr habt ja schließlich eine gute Lösung gefunden.
Ja. Irgendwann kam ich an den Punkt, zu sagen: Wir lassen jetzt mal das Unternehmen weg – am Ende geht es um die Menschen, um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Also sollten diese auch frei entscheiden können. Ob reines Büromodell, Homeoffice oder Hybridlösung: Bei jeder denkbaren Variante gab es etwas zu verlieren. Und dann haben wir uns gesagt: Wenn wir eh was verlieren, dann lasst uns doch möglichst viel dabei gewinnen. Auch das flexible Arbeitsmodell hat ein paar Schattenseiten – aber dann kümmern wir uns so gut um diese, dass wir schlussendlich gemeinsam einen Schritt nach vorne machen. Dann wagen wir das Experiment! Und seitdem können alle völlig frei entscheiden, jeden Tag aufs Neue, wo sie arbeiten möchten.


Welche sind denn die Schattenseiten beim flexiblen Modell, die du angesprochen hast?
Für viele ist es eine Herausforderung, dass die Gemeinschaft wegbricht, dass die Kollegen weg sind. Man geht ins Büro, aber das Büro ist vergleichsweise leer. Nicht jeder ist der Typ, der es allein schafft. Nicht für jeden ist es gut, für sich daheim zu arbeiten, sich selbst strukturieren und motivieren zu müssen. Und nicht bei jedem sind die räumlichen und sozialen Gegebenheiten so, dass „gutes“ Arbeiten auf Dauer möglich ist.

Man weiß gar nicht, wer hier welchen Schaden genommen hat … Ich sehe das auch so beim Beispiel Schule: Setting und Gemeinschaft sind wichtiger als der Unterricht an sich.


Und was ist mit den Schattenseiten für das Unternehmen? Unter welchen Umständen würde Remote Work für dich als Geschäftsführer nicht funktionieren?
Die größte Herausforderung ist, dass wir nicht mehr sehen können, dass bzw. wie gearbeitet wird. Wir spüren den „Puls des Unternehmens“ nur noch während der Remote-Termine im direkten Austausch. Da die Aufgaben sozusagen „im Verborgenen“ erledigt werden, gibt es auch weniger Möglichkeiten für unmittelbares Feedback, für Verbesserungsvorschläge aufgrund von Beobachtungen, für gegenseitige Inspirationen oder dafür, voneinander zu lernen. Und Remote Work ist sicher auch ein Test für Vertrauen: Beim flexiblen Arbeiten muss ich als Chef den Angestellten noch mehr zutrauen, dass sie eigene gute Entscheidungen treffen und dabei im Einzelfall auch die eigenen Interessen hintenanstellen: Jeder kann sich ja jeden Tag neu frei entscheiden – aber eben nur, sofern es für die Kunden und das Team passt. Wenn es notwendig ist, muss man ins Büro kommen, etwa weil ein Kundenbesuch ansteht. Es ist also sicherzustellen, dass das Ganze weiterhin einwandfrei funktioniert. Remote ist folglich nicht möglich, wenn man seine Freiheit zu 100 % ausreizt. Dazu braucht es ein gut funktionierendes, klares Regelwerk.


Stichwort Regelwerk: Wie habt ihr das gelöst?
Die orgavision Software selbst dient uns ja als unser Wissensmanagementsystem. Wir haben unsere Regeln im internen Handbuch genau definiert, nach dem Motto: So viele wie nötig, aber so wenig wie möglich. Sie sind für alle einsehbar und stets aktuell.

Zum Beispiel definieren wird dort die Anforderungen an einen mobilen Arbeitsplatz (Stichworte: störungsfreie Arbeitsumgebung, Sicherheit unserer Daten), aber auch an Meetings: So ist die Kamera in der Regel immer an. Und sofern nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Büro anwesend sind, nutzen alle ihren eigenen Laptop mit Headset, um die bestmögliche Verständigung für alle sicherzustellen – und damit sich niemand ausgeschlossen fühlt.


Und wie entwickelt sich das Ganze derzeit weiter, was ist dein Eindruck?
Wie ich schon sagte: Mir fehlen die Menschen. Sie nicht zu haben, ist ein Verlust für mich. Ohne die Verbundenheit bleibt so viel Persönliches auf der Strecke. Ich frage mich nun aber auch: Brauchen das überhaupt alle? Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die wollen das gar nicht so eng … Wir stellen z. B. Leute ein, die ausschließlich remote arbeiten, die ins Büro kommen könnten, aber nicht wollen. Also hat sich unsere Unternehmenskultur schon verändert.

Meine These ist, dass die einzelnen Teams wichtiger geworden sind, da man von zu Hause aus das Gesamtunternehmen weniger wahrnimmt. Also steuern wir von Firmenseite aus dagegen: durch regelmäßige Formate wie den Unternehmensreview mit der gesamten Belegschaft, durch sorgfältiges Onboarding oder Teamevents wie unser jährliches Offsite, bei dem wir alle drei Tage am Stück miteinander verbringen.

„Alles in allem glaube ich, die Menschen wissen jetzt besser, was sie wollen, was sie brauchen und was nicht.“

Inwiefern wird sich die Arbeitswelt deiner Meinung nach verändern?
Durch Corona sind viele Gewissheiten ins Wanken gekommen. Viele Leute haben Dinge hinterfragt, plötzlich konnte man das eigene Leben neu ausrichten. Auf sich selbst zurückgeworfen, ist ein neues, auch fragwürdiges Bild entstanden, wie die Arbeitswelt in der Zukunft aufgestellt wird. Fragwürdig insofern, als dass Ansprüche an die Arbeitszeiten oder die Bezahlung entstanden sind, die zum Teil berechtigt sind – zum Teil maßlos. Wir haben mittlerweile einen starken Individualismus mit Licht- und Schattenseiten, ein „Erstmal-Ich-Denken“. Das bedeutet, dass sich viele immer weniger in betriebliche Notwendigkeiten einfügen möchten. Gut, wir leben im Wohlstand – doch diesem ging ja eine Leistung voraus. Will sagen, wir können nicht gleichzeitig den Wohlstand genießen und uns zurücklehnen. Und die Gerechtigkeit gerät aus dem Gleichgewicht, denn in bestimmten Berufen gibt es gar nicht die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, die mussten während der Pandemie ja Kurzarbeit machen.


Alles in allem glaube ich, die Menschen wissen jetzt besser, was sie wollen, was sie brauchen und was nicht – und suchen sich dann den entsprechenden Job. Dadurch sind Unternehmen gezwungen, neu zu denken. Und diejenigen, die sich komplett dem Prinzip Remote Work verweigern, werden es schwer haben. Bei orgavision haben wir durch die Pandemie gelernt, auf eine konsequente Mitarbeiterorientierung zu setzen – in Krisenzeiten, aber auch generell.


Vielen Dank für das Gespräch!

 

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Credits: Chris Montgomery | Unsplash