Agiles QM: Interview mit Benedikt Sommerhoff (DGQ)

Schneller Wandel, Unplanbarkeit, Komplexität: All diese Phänomene stellen unsere Wirtschaft seit einigen Jahren vor Herausforderungen, auch das Qualitätsmanagement. Benedikt Sommerhoff hat bereits 2016 mit Kolleg:innen das „Manifest für Agiles Qualitätsmanagement“ entwickelt und darin die geltenden QM-Grundsätze hinterfragt bzw. ergänzt. Wie sieht es 7 Jahre später aus? Hat sich etwas getan seitdem? Wir fragen nach!

Benedik Sommerhoff im Interview mit orgavision
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orgavision: Guten Morgen, Herr Sommerhoff! Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns gemeinsam Rückschau zu halten auf das „Agile QM“ und Ihr gleichnamiges Manifest. Starten wir mal kalt: Fällt Ihnen spontan etwas ein zu Agilem QM – eine neue Erkenntnis, eine neue Idee, ein neuer Gedanke?

Benedikt Sommerhoff: Nee, und das ist auch gut so. Bei aller Agilität, es muss auch mal Ruhe im Karton sein. Natürlich gibt es frische Erkenntnisse, die haben sich über mehrere Jahre verdichtet. Ich suche aber nicht jeden Tag was Neues zur Agilität. Ich finde jeden Tag was Neues – nur nicht unbedingt zur Agilität. 

Benedikt Sommerhoff – zur Person

Benedikt Sommerhoff leitet bei der Deutschen Gesellschaft für Qualität (DGQ) das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung.

Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

Die 7 Grundsätze des Qualitätsmanagements

Links sehen wir, welche Grundsätze die ISO 9001 im Jahr 2015 gefordert hat – rechts, wie die Grundsätze im Manifest für Agiles QM (2016) an die agile Realität angepasst wurden. 

orgavision: Ihr Impulspapier von 2020 ergänzt Ihr Manifest von 2016. Beim Lesen kam mir der Gedanke: Viele theoretische Modelle und Einteilungen aus dem Management, aus der Wirtschaft lassen sich ja gut übertragen auf gesellschaftliche Phänomene – und umgekehrt. Haben Sie hier Parallelen entdeckt? 

Benedikt Sommerhoff: Da fallen mir eher Unterschiede auf. Ich finde, dass ein Riesenunterschied zwischen Unternehmen und Gesellschaft insofern besteht, als die Mitgliedschaft im Unternehmen von beiden Seiten aufgekündigt werden kann – und dass man auf eine andere Art und Weise Spielregeln durchsetzen kann. 
In der Gesellschaft ist die Dynamik größer, die Unterschiedlichkeit, die Spreizung … vieles, was im Unternehmen funktioniert, folgt in der Gesellschaft anderen Mechanismen und Logiken. 

Ich beschäftige mich gerade mit dem Thema „Qualität in der Gesellschaft“. Heute Morgen habe ich mit einem Kollegen darüber gesprochen und den Soziologen Armin Nassehi zitiert: „Es gibt einen Fehlschluss vom Notwendigen auf das Mögliche.“ Vieles im Unternehmen ist machbar, ist möglich, man kann es einfach tun! Wenn sich die Hierarchien einig sind und man die Mitarbeiter/-innen mitnimmt, dann handelt man einfach. In der Gesellschaft geschieht das komplizierter: Viele Dinge sind de facto nicht möglich, da zu komplex. Hier gibt es immer nur Teillösungen. – Ich finde die Unterschiede zu verstehen wichtiger, als die Gemeinsamkeiten zu suchen.

„Vieles im Unternehmen ist machbar, ist möglich, man kann es einfach tun!“

orgavision: Wie Sie es beschreiben, könnte man sagen, die Gesellschaft hinkt dem Unternehmen hinterher? 

Benedikt Sommerhoff: Nein, die Gesellschaft ist die Gesellschaft, und das Unternehmen ist ein Teil davon. Das löst in mir eher den Reflex aus zu sagen, die Gesellschaft hinkt der Notwendigkeit der Welterhaltung hinterher – aber nicht dem Unternehmen.

orgavision: Ich meinte, dem Unternehmen hinterherhinken, weil man dort – im geschlossenen Kosmos – Dinge auszuprobieren kann, für die die Gesellschaft vielleicht zu träge ist?

Benedikt Sommerhoff: Ja, aber in der Gesellschaft wäre so etwas autoritär. Nur in totalitären Gesellschaften ist es möglich, so miteinander zu agieren wie im Unternehmen. Im Unternehmen fühlt sich es aber nicht totalitär an, weil sich alle den Regeln unterwerfen und wissen: Chefs dürfen den Rahmen setzen, Dinge verlangen, bestimmen. Das akzeptieren freiheitliche Gesellschaften nicht – da wäre man dann gleich in einem autoritären System.

orgavision: Also wäre das Unternehmen der Ort, an dem Hierarchien noch erlaubt und erwünscht sind? 

Benedikt Sommerhoff: Ja, sogar unverzichtbar. Es ist ja auch Teil der Agilitäts-Diskussion, dass man eine Zeit lang geglaubt hat, es gehe bei der Agilisierung um die Überwindung von Hierarchien. Eine Zeitlang war auch ich der Meinung, da könnte etwas dran sein. Dann hab ich dieses wunderschöne Büchlein von John P. Kotter* entdeckt. Er spricht vom dualen Betriebssystem der Organisation, also einer guten Gleichzeitigkeit von hierarchischer Prozessorganisation und agiler Netzwerkorganisation. Wie schafft man es in Organisationen, beides zu bekommen, wenn man beides braucht?

Bei allen Experimenten, die einzelne gemacht haben – und die mir auch temporär sehr erfolgreich scheinen – mit wenig Hierarchie oder wenig Sichtbarkeit von Rangordnungen zu agieren: Ich vermute doch, dass eine Hierarchie in den allermeisten Organisationen dringend gebraucht wird, damit diese leistungsfähig bleiben. Frage ist nur, wie man Führung lebt. Ob man diese totalitär auslebt – oder eher menschenorientiert. Aber dann sprechen wir nicht darüber, ob es Hierarchie gibt, sondern wie (modern) geführt wird.

*Was ist das duale Betriebssystem nach Kotter?

Fast alle erfolgreichen Unternehmen beginnen als netzwerkartige Struktur (orange), die ihnen viel Agilität ermöglicht.

Wenn sie wachsen, entwickeln sie meist eine andere, reifere Form: eine hierarchische Struktur (blau) mit den bekannten Managementprozessen. Bei allen Vorteilen stößt dieses grundsätzlich erfolgreiche Modell an seine Grenzen, wenn es darum geht, schnell und agil zu reagieren. Auch Task Forces und Elemente des Change Managements vermögen hier nicht wirklich zu helfen. 

John P. Kotter fordert daher „ein leistungsstarkes neues Element“, um den „durch wachsende Komplexität und schnellen Wandel bedingten Herausforderungen begegnen zu können“. Seine Lösung: eine zweite, wieder netzwerkartige Struktur („Sonnensystem“) neben der alten, bewährten Hierarchiestruktur. Es brauche kein „entweder/oder“, sondern ein „sowohl/als auch“ – zwei Systeme in einem, kurz: das duale Betriebssystem.  

In seinem Buch „Accelerate“ (Franz Vahlen Verlag 2015) beschreibt Autor John P. Kotter, wie dieses duale System im Detail aussehen kann und nennt Erfolgsgeschichten aus der Praxis.

orgavision: Aha, dienende Führung! (siehe Grafik oben: „Die 7 Grundsätze des Qualitätsmanagements“)

Benedikt Sommerhoff: Ja. Das war übrigens ein total allergieauslösender Begriff! Wir hatten den ja eingebaut in unser Manifest für Agiles QM. „Servant Leadership“ oder „Dienende Führung“ war das Thema, das am stärksten angegriffen wurde. Der größte Aufreger, nicht nur bei Führungskräften, auch bei den Geführten. 

orgavision: Wie erklären Sie sich das? Ist das einfach menschlich?

Benedikt Sommerhoff: Ja, menschlich ist das alles. Der Begriff Dienende Führung zeichnet ja eine ganz besondere Art der Beziehung zwischen Menschen. Der Widerspruch kam zweigeteilt: Die einen meinten, wäre ja gut und schön, aber „mit unseren Führungskräften geht das nicht“, dazu seien die heutigen Führungskräfte gar nicht in der Lage – was ich übrigens nicht glaube. Und die anderen sagten, der Begriff tauge nichts. Es sei nicht die Rolle von Führung, zu dienen. 

„Servant Leadership – ein total allergieauslösender Begriff!“

orgavision: Von diesen sieben Begriffen, die Sie insgesamt umgewidmet haben, wo hat es außerdem stark gekracht?

Benedikt Sommerhoff: Was erst auf den zweiten Blick irritiert, beim neuen Begriff Knackpunktorientierte Lösungsfindung (statt: Faktengestützte Entscheidungsfindung). Das war damals sehr stark geprägt von Arbeiten aus dem Design Thinking**. 
Auch der Ansatz, nicht mehr so detaillierte, langfristige Pläne zu machen, sondern einfach Dinge früher auszuprobieren und damit einen Umgang zu finden, das Thema Iteration also (statt: Verbesserung), wurde stark diskutiert. Dazu gehört für mich auch eine neue Interpretation von PDCA: der Switch zu DCA-DCA-DCA, wie ich es nenne, also Do-Control-Act. Hat auch die Gemüter erhitzt, aber nicht so sehr wie Servant Leadership.

orgavision: Wobei ich mich bei „knackpunktbasiert“ gefragt habe, wie komme ich eigentlich möglichst schnell an den Knackpunkt?

Benedikt Sommerhoff: Da komme ich eben gar nicht schnell hin! Das ist ja genau der Irrtum. Viele glauben, die Energie muss fließen, um schnell die Lösung zu finden. Wir sind nun einmal eine enorm lösungsringende Gesellschaft! Funktionen wie Qualitätsmanager, Führungskräfte, Ingenieure sind total problemlösungsorientiert: Wir sammeln oft schon Ideen für Lösungen, wenn wir den Knackpunkt noch gar nicht gefunden haben. Wir glauben, den Ursprung der Problematik gut genug zu kennen, um schon die Art der Lösung benennen zu dürfen.

Das ist aber oft gar nicht der Fall, anders gesagt: Es gib andere Lösungsräume als die, die uns vertraut sind, in denen wir vielleicht viel bessere Antworten finden. Dazu ist es wichtig, mehr Zeit im Problemraum zu verbringen – und nicht die meiste Zeit im Lösungsraum. Es gilt, die Problematik besser zu verstehen und vielleicht neue Facetten, Knackpunkte daran zu entdecken.

**Was ist Design Thinking?

Design Thinking, in den 80er Jahren entwickelt, ist ein Ansatz, um Problemstellungen auf kreativem Weg zu lösen – eben „nach Art der Designer“. Die Methode eignet sich unter anderem, um neue, tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln und dabei den Nutzer = den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.

Zunächst wird ausreichend Zeit im Problemraum verbracht, bevor das Team den Lösungsraum „betritt“. Die 6 einzelnen Schritte bei diesem Vorgehen lauten: Verstehen, Beobachten, Standpunkt definieren, Ideen finden, Prototyp bauen, Testen.

Design Thinking setzt eine gewisse Offenheit voraus, um neue Methoden und Denkweisen anzuwenden – so gilt es z. B., im Brainstorming erst einmal alle Ideen zuzulassen und später auszusortieren. 

orgavision: Sie hatten ja vorhin schon mal Design Thinking erwähnt. Stellen Sie sich vor, Sie wollten so ein Methodenköfferchen zusammenstellen für jemanden, der mal auf einem niedrigen Niveau mit der Agilität starten möchte. Gibt es da noch weitere Methoden, die Sie empfehlen – außer Design Thinking, Scrum, Kanban, die da sicher auch alle reingehören?

Benedikt Sommerhoff: Ich empfehle gar keine Methoden. Diese führen viele, die beginnen damit zu arbeiten, auf eine falsche Fährte. Die haben alle Suchtpotenzial, ob man Design Thinking oder Scrum oder andere Dinge nimmt, die als dem Agilen nahestehende gelten, da kann man sich drin verlieren.

Ich glaube, es geht kleiner los. Wer wirklich anfangen will, braucht gar nicht so viel Methodik, sondern zunächst nur eine neue Taktik, nämlich: früher Dinge auszuprobieren. Ich glaube, der Kern der Agilität ist dieses Kleinschrittige, Iterative. Unser langes Brüten an Konzepten und Lösungen, um gleich perfekt starten zu können – das ist oftmals hinderlich und nicht praxistauglich. 

Wenn man konzeptionell unterwegs ist, etwas neu oder anders machen soll: Sich dann zu trauen, Dinge früher auszuprobieren und dann zu gucken, was passiert – das ist der beste Rat, den ich geben kann, um mit dem Agilerwerden zu starten.

Und auf dem Weg des Experimentierens stoße ich vielleicht auf einzelne Methoden oder auf ganze Methodologien. Design Thinking** an sich ist ja gar keine Methode, sondern eher ein pädagogisch-didaktisches Verständnis davon, wie man Problemursachen verstehen und Lösungen finden kann. Da lassen sich Hunderte von Methoden einsetzen, und deswegen ist es auch so schwierig, sich einzelne anzueignen oder zu sagen: Das sind die Methoden, mit denen du startest. – Ich empfehle lieber als Taktik, Dinge schnell auszuprobieren.

„Sich zu trauen, Dinge früher auszuprobieren und dann zu gucken, was passiert – das ist der beste Rat!“

orgavision: Das hört sich so an, als ob es im Grunde aufs Mindset ankommt. Dass Agilität bestimmte Eigenschaften erfordert wie Mut, Neugierde … Welche wären das noch? Und was heißt das für den QMB von morgen, was muss der mitbringen? Welche Eigenschaften braucht er für Agilität und agiles QM?

Benedikt Sommerhoff: Erstmal ist mir wichtig zu sagen, dass nicht alle Menschen hohe Agilitätsgrade haben müssen – und auch nicht alle Bereiche in der Organisation den gleichen Agilitätsgrad. Das ist auch deswegen eine erleichternde Botschaft, weil nicht alle Menschen die Disposition haben für dieses experimentelle Vorgehen: Ja, das erfordert Mut, Neugierde und ein dickes Fell beim Scheitern.

Es gibt ja den schönen Spruch: Scheitere oft, aber scheitere früh. Probiere die Dinge früh aus, dann weißt du gleich Bescheid. Dann musst du nicht später erklären, dass deine Lösung eigentlich klasse war – nur leider die Welt zu doof, um sie richtig zu benutzen. 

Es werden weiterhin Menschen gebraucht, deren Motiv Ordnung und Planung ist. Die Dinge stabilisieren, auch als Gegenpol zu den Agilen. Es gibt Bereiche in Organisationen, die keine hohen Agilitätsgrade vertragen. Heißt: Es gibt für jeden, wie immer er auch tickt, den richtigen Platz.

Aber welche Eigenschaften braucht man für die Agilität? Ja, es ist leichter, wenn man Lust am Experimentieren hat. Und wenn man in ein Setting kommt, in dem man psychologische Sicherheit hat, wie es heißt. In dem Scheitern auch erlaubt ist. Dann brauche ich auch gar nicht so viel Mut! Den brauche ich ja nur, wenn Scheitern bestraft wird. Ich glaube, viele Agilistas sind gar nicht so mutig und müssen es auch nicht sein. Weil in ihren Settings Mut nicht erforderlich ist, um Innovation zu schaffen. Mut braucht man nur dann, wenn die Organisation überhaupt nicht damit umgehen kann, dass einige Bereiche experimentieren – und man es dann trotzdem tut.

Wichtiger als Mut: Das Scheitern aushalten können … und ertragen, dass man nicht vorankommt, vielleicht über Jahre, obwohl man vieles probiert. 

„Wenn Scheitern erlaubt ist, braucht man gar nicht so viel Mut.“

orgavision: Also braucht man Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz?

Benedikt Sommerhoff: Vielleicht entsteht gar nicht so viel Frust, wenn man in agilen Settings scheitert. In diesen Teams geht es viel um die Art und das Verstehen des Scheiterns. Darum, die Ursache zu finden. Das ist total faszinierend und macht neugierig. Hier dominiert die Lust am Erkenntnisgewinn, warum etwas nicht geklappt hat – um diesen sofort für etwas anderes zu nutzen, was klappen kann.

 

orgavisionDas lasse ich mal auf mich wirken. Das ist eigentlich – richtig schön. 

Benedikt Sommerhoff: Sie sagen es, Sie haben ein Wort dafür gefunden, es ist richtig schön.

orgavision: Zurück zum Manifest an sich. Von der Resonanz abgesehen, hat sich ansonsten in Ihrer Wahrnehmung durch diesen Aufschlag etwas verändert? Hat das Manifest, veröffentlicht von der DGQ***, auch international Kreise gezogen?

Benedikt Sommerhoff: Ja, das war mir wichtig. Wir haben das sofort professionell übersetzen lassen, damit es auch international Beachtung findet. Weil wir davon ausgegangen sind, dass internationale Resonanz auch die Arbeit in Deutschland stärkt – und so war es auch. Es gab Feedback aus dem angelsächsischen Raum und aus anderen Ländern.

Es Manifest zu nennen, war ein pfiffiger Zug, weil ja das „Manifest für agile Softwareentwicklung“ gerade so einen Hype erfahren hatte. Dass auch unser Werk, ganz anders aufgebaut, Manifest hieß, hat viel Resonanz ausgelöst. Auch wenn sie kritisch war, war sie willkommen und gut. Mir ist lieber, die Leute setzen sich prüfend mit etwas auseinander als gar nicht. Das Ganze wird auch heute noch viel aufgerufen und immer wieder kommentiert. 

***Was ist die Deutsche Gesellschaft für Qualität (DGQ?)

Die Deutsche Gesellschaft für Qualität (DGQ) ist zentraler Ansprechpartner für Qualität, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung in Deutschland. Ihr einzigartiges Netzwerk vereint über 6.000 Qualitätsexperten in mehr als 4.000 Unternehmen aller Größen und Branchen. Die DGQ engagiert sich in der Normungsarbeit und fördert Forschungsprojekte rund um Qualität. Mit etwa 300 Trainern und 1.000 Trainings jährlich stellt sie ein breites Weiterbildungsangebot zur Verfügung und erteilt anerkannte Personenzertifikate.

orgavision: Mal abgesehen vom Diskurs, was hat sich durch das Manifest in der Unternehmenslandschaft verändert? Hat sich da etwas getan seit der Veröffentlichung 2016?

Benedikt Sommerhoff: Das Thema Agilität ist hart in der Realität angekommen – durch die Pandemie, den Krieg in Europa, die enormen Lieferkettenprobleme … Begriffe wie VUKA-Welt haben früher lediglich Reaktionen auf Kongressen ausgelöst, so ein Rauschen im Blätterwald – als Spielfeld für einzelne Innovations-Nerds im Unternehmen. 
Mittlerweile ist klargeworden, Agilität und Resilienz, etwa bei Lieferketten, sind existenzielle Themen für Organisationen. Die Hypes um diese Begriffe sind zwar durch, auch die Methoden-Hypes oder Schulen-Hypes wie Design Thinking. Raus aus den Konferenzen, rein in die Unternehmen: Die Aufgeregtheit ist weg, das Instrumentarium steht uns nun zur Verfügung.

In mehr und mehr Organisationen ist das Thema agile Produktentwicklung relativ weit gediehen, auch außerhalb der Softwareentwicklung, wo es sich ja besonders gut umsetzen lässt. Wir haben konkretere Vorstellungen davon, was geht und was nicht: Das „agile Wolkenkuckucksheim“ wurde ins Reich der Utopie verwiesen. Übrig geblieben sind die Dinge, die in Unternehmen begonnen haben zu funktionieren. 

„Das Thema Agilität ist hart in der Realität angekommen.“

orgavision: Wann und wo funktioniert Agilität nicht? Ich denke ans Handwerk, an den Hausbau, den Frisör, den Bäcker. Wenn ich sage, Agilität finde ich total cool – aber mein Produkt ist leider total standardisiert. Ich bin Bäcker, ich backe Brötchen. Was antworten Sie mir, was kann ich tun? 

Benedikt Sommerhoff: Der Bäcker muss nicht agil sein beim Brötchenbacken. Klar muss er sein Produktportfolio immer wieder anpassen – was wird gekauft, was nicht? Das hat er im Blick. Er sieht ja, was abends noch im Regal liegt. Seine Agilität muss also eher darauf hinwirken, dass nicht zu viel Ware übrig bleibt – aber trotzdem genug da ist. Vielleicht muss er öfter backen.

Bei reinen Aufbäckern, die einfach Rohlinge in den Ofen schieben, ist das kein Problem und auch keine agile Herausforderung. Wer hingegen noch selbst backt, muss sich überlegen, ob er das mehrfach am Tag leisten kann.

Hier ist Agilität weniger Thema der Produktentwicklung, sondern eher der Prozessgestaltung und der Verkaufsoptimierung und des Ressourceneinsatzes. Vielleicht lassen sich auch agile Taktiken einsetzen, um Energieverbräuche zu reduzieren – das ist ja bei Bäckern derzeit ein riesengroßes Thema. Da muss ich vielleicht auch mein Produktportfolio anpassen, kann nicht mehr so viele verschiedene Brotsorten anbieten.

orgavision: Stichwort Kundenzufriedenheit – wäre auch das ein guter Ansatzpunkt, um mit agilen Methoden zu starten?

Benedikt Sommerhoff: Ja, dieses Experimentieren mit neuen Ansätzen findet ja am Kunden statt. Das muss ich gut kommunizieren: „Ich hab mal was weggelassen, hab was ausprobiert, ich will mit dir darüber reden, ich will dir das erklären.“ Und wenn ich schlecht oder gar nicht kommuniziere, sehen die Kunden nur: „Es fehlt was, das hier ist anders, ist neu … ich verstehe das nicht!“ Agilität braucht viel Kommunikation – oder eine andere Kommunikation. 

Richtig kommunizieren im QM Handbuch

Eine andere, neue Kommunikation – wie sieht die aus? Wir haben ein paar Tipps gesammelt, mit denen Sie Ihre Leser:innen wirklich erreichen – seien es Kolleg:innen oder Kund:innen. Zum kostenlosen Leitfaden

orgavision: Wir haben viele Kunden aus der Sozialwirtschaft, aus der Pflege, aus dem Gesundheitswesen. Dort ist ja die große Herausforderung, eigentlich den Dienst am Menschen leisten zu wollen – und dann in der Verwaltungsarbeit aufgerieben zu werden. Hinzu kommt der ständige Zeitmangel. Wie lässt sich agiles QM dort denken?

Benedikt Sommerhoff: Hier finde ich wichtig zu sehen, dass diese Branche schon von jeher in der Lage war, hochgradig agilzu handeln. Ausgebildete Pflegekräfte und medizinische Fachkräfte haben ja ein Selbstverständnis, am Patienten das – aus ihrer Einschätzung – Notwendige einfach zu tun. Sie handeln agil und gut. Die Teams in der Notaufnahme oder im OP trainieren genau dafür. Das geht nur mit Kompetenz.

Und ganz wichtig: Wenn es dem Patienten dient und im Notfall gerechtfertigt ist, lösen sie sich von Prozessen und machen Dinge ganz anders als typischerweise. Das ist nichts anderes als Agilität! Dazu gehört auch, mit dieser Unsicherheit umgehen zu können, ob etwas funktionieren wird – während man handeln muss. Zu gucken: Was passiert jetzt? Geht der Puls hoch, geht er runter, blutet es weiter, hört es auf? Dieses Setting ist absolut förderlich dafür, dass Menschen persönlich die Kompetenz entwickeln, agil zu handeln. 

Das Ganze findet aber in hochgradig überreglementierten Organisationen des öffentlichen Dienstes statt. Hier stoßen das überformalisierte System und die Notwendigkeit agilen Agierens unversöhnlich aufeinander. Ich hatte John P. Kotter erwähnt, der es „Duales Betriebssystem“ nennt, wenn eine Organisation eine gesunde Gleichzeitigkeit von agiler Netzwerkorganisation und hierarchischer Prozessorganisation lebt. Im Gesundheitswesen ist die Spreizung allerdings oft so groß, dass es im Ergebnis nicht funktioniert.

Darin liegt die besondere Problematik: die kompetenzbasierte Fähigkeit der Teams zu Agilität vs. die hochgradige Überreglementierung von außen. Manchmal – nicht immer – wird das noch intern verstärkt durch Qualitätsmanager, die sich dann wundern, warum das Qualitätsmanagement in der Organisation keine Akzeptanz findet. Während intellektuell jeder die Ideen, auf denen das QM basiert, richtig und vernünftig findet, entstehen in der Praxis Situationen, in denen es einfach nicht mehr sinnvoll ist, sich an die Spielregeln zu halten.

„Im Gesundheitswesen stoßen das überformalisierte System und die Notwendigkeit agilen Agierens unversöhnlich aufeinander.“

orgavision: Diese Diskrepanz spielt ja ehrlicherweise uns als Software-Anbieter in die Tasche. Wir kommen ins Spiel und sagen, macht es euch doch ein bisschen einfacher mit einer QM-Software. Agiles QM – was kann Software da leisten aus Ihrer Sicht, oder wie muss Software beschaffen sein, die das optimal unterstützt?

Benedikt Sommerhoff: Das Wichtigste ist, dass wir durch Technik und auch Software in der Lage sind, zu automatisieren und dadurch Menschen zu entlasten. Ich sehe den Automatisierungsaspekt bei vielem, über das wir gerade sprechen, als großes Potenzialfeld, um Menschen freizumachen für agiles Handeln. Damit meine ich nicht nur, dass man Routinetätigkeiten digital abbildet, sondern dass man gezielt auf hohe Automatisierungsgrade hinarbeitet. Sodass Menschen wirklich Zeit gewinnen – und diese nicht am Rechner mit der mehr oder weniger schönen Software verbringen. Die Software tut im Hintergrund sinnvolle Dinge, und der Mensch muss sich nicht ständig damit befassen – sondern erhält brauchbare Ergebnisse an den notwendigen Stellen. 

orgavision: „Es braucht keine digitalen Dokumente, es braucht die digitalen Prozesse dahinter“ – diese Aussage deckt sich gut mit der Stoßrichtung von orgavision.

Benedikt Sommerhoff: Ja, in diesem Zusammenhang gefällt mir die dreistufige Einteilung in Digitisierung, Digitalisierung und digitale Transformation. Vielfach findet noch eine reine Digitisierung statt, also eine digitale Abbildung von Dingen, die vorher nicht-digital waren. Was vorher auf Papier stand, liegt jetzt in elektronischer Form vor.

Aber das erschließt nicht die Potenziale echter Digitalisierung, die auch Prozesse anders – besser, schneller, leistungsfähiger – gestaltet. Und die digitale Transformation als Stufe 3 ermöglicht völlig andersartige, sinnvolle Dinge! Viele nutzen aber nicht einmal die vorhandenen Möglichkeiten von Software und kommen über den Schritt der Digitisierung nicht hinaus. Das reicht nicht!

Digitisierung – Digitalisierung – Digitale Transformation

Übrigens: Wie Digitalisierung schrittweise gelingen kann, zeigen wir Ihnen ganz praxisnah am Beispiel eines Pflegedienstes – im Blogartikel Pflege digitalisieren – ein Ortstermin.

orgavision: Ein schönes Bild mit den drei Stufen. Aber wenn Digitisierung das Einscannen von Dokumenten bedeutet und Digitalisierung das Automatisieren der Prozesse dahinter – was wäre dann digitale Transformation, worin bestünde dann der Folgeschritt? Zum Beispiel in der Pflege?

Benedikt Sommerhoff: Gar nicht digital ist es, wenn Sie in einem Behandlungsbereich die vorhandenen medizinischen Hilfsmittel und Medikamente in Listen eintragen und diese aushängen. Irgendwann sammelt jemand die Listen ein und macht Inventur.

Im nächsten Schritt digitalisieren Sie, da tragen Sie alles digital ein, sagen wir, über ein Pad: Hab zwei Mullbinden entnommen, hab ein Paket wieder in den Schrank gestellt. Kann man machen.

Was wäre nun digitale Transformation? Ich „spinne“ mal, das Beispiel hat auch Grenzen, aber das Prinzip wird sofort klar – wenn ich Dinge rückverfolgen kann. Ich gehe etwa durch eine Schleuse, und die erkennt: Hier trägt gerade jemand ein Paket mit 12 Mullbinden durch, das wird sofort inventarisiert. Oder das System kriegt ein Signal, wenn jemand den Schrank aufmacht. Dann könnte eine Kamera anspringen, die erkennt, was jemand entnimmt und die sofort die Inventarliste korrigiert. So wissen das System und damit auch die Menschen jederzeit, was im Schrank ist. Das wäre digitale Transformation, da muss dann überhaupt keiner mehr eine Liste führen. 

orgavision: Also digitale Transformation bedeutet, dass jenseits des Laptops weitere Maschinen und Technik eingebunden sind. Wäre also „Internet of Things“ das passende Schlagwort?

Benedikt Sommerhoff: Nein, das „Internet of Mullbinden“!

orgavision: Sehr schöne Zwischenüberschrift! Eine letzte Frage, persönlich. Wo leben Sie als Mensch agil? Haben Sie für Ihren Alltag, für Ihr Privatleben irgendetwas übernommen? Merken Sie: Ach, da hab ich gerade neu gedacht?

Benedikt Sommerhoff: Ich finde Veränderungen reizvoll, und ich mag es Dinge auszuprobieren. Deswegen liegt mir vielleicht auch agiles Arbeiten nah, ich experimentiere gerne.

Das Letzte, was ich gemacht habe: Ich habe meine Icon-Leiste am PC von unten nach oben verschoben. Das ist so ätzend, so störend, so ungewohnt! Was unten war, ist oben, alles verschiebt sich, und ich verwechsle ständig, was ich anklicken wollte. Ich ziehe das jetzt aber durch! Ich will, dass das anders aussieht, ich behalte diese Irritation bei! Denn dieser Ärger bringt mich auch ein bisschen zum Schmunzeln, weil er mir zeigt, was wir doch für Gewohnheitstiere sind. Es ist doch eigentlich so egal, ob die Leiste oben oder unten ist. 

Den Kollegen, die ja merken, dass ich jetzt mit meinem eigenen PC nicht mehr klarkomme, erzähle ich, das ist Demenzprävention. Ich mag solche Dinge. Ich mag es einfach, wenn sich Dinge ändern – wenn auch nicht um jeden Preis. 

orgavisionEin schönes Schlusswort! Lieber Herr Sommerhoff, ich danke Ihnen für das Gespräch!